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„Wir sind ja nicht beim Sport“ - Interview with Peter Schneeberger for Profil, 25th February 2008
Dirigent Zubin Mehta über Giuseppe Verdi, digitale Klassik, das indische Kastensystem, arrangierte Ehen und die Premiere von "La Forza del Destino" an der Wiener Staatsoper.
profil: Sie dirigieren diese Woche die Staatsopern-Premiere von Verdis „La forza del destino“. Die Oper soll jedem, der sie aufführt, Pech bringen.
Mehta: Daran sollte niemand mehr glauben. Es stimmt schon, dass bei Aufführungen der „Forza“ immer wieder Unglücksfälle passiert sind. Leonard Warren - ein großer Verdi-Bariton an der New Yorker Met - ist 1960 während einer Vorstellung der „Forza“ gestorben. In Buenos Aires war die Oper bis vor Kurzem verboten, weil dort vor hundert Jahren während einer Aufführung der Luster heruntergefallen ist. Pavarotti nahm nicht einmal den Namen dieser Oper in den Mund. Er war extrem abergläubisch und befürchtete, dass ihm etwas zustoßen könnte.
profil: Was mögen Sie an dem teuflischen Werk?
Mehta: Diese Oper ist eine der herrlichsten Verdi-Kreationen überhaupt. Verdis Innovationskraft ist unglaublich. Die Ouvertüre fängt ganz schlicht an, es erklingt kein Akkord, bloß das Hauptmotiv der Oper. Das ist so revolutionär wie Beethovens „Eroica“, wo es praktisch keine Einleitung gibt. Es erklingt zweimal ein Es-Dur-Akkord - und los geht’s.
profil: Kenner schelten „La forza del destino“ wegen der Handlung. Selbst Verdi meinte, das Werk sei eine „Häufung von Unwahrscheinlichkeiten“.
Mehta: Die Opern des 19. Jahrhunderts waren Gesangskunstwerke. Der Tenor muss zwei Arien haben, seine Partnerin muss ebenfalls zwei Arien haben, es muss ein Trio geben und so weiter. Leonore, die Hauptfigur in „La forza del destino“, tritt nur im ersten Bild als Frau auf, danach muss sie sich als Mann verkleiden. Das ist kein Unsinn, so war der Stil der Zeit. Jemand hat sich verkleidet, um nicht erkannt zu werden.
profil: Musikalisch wird Leonore zu einem engelsgleichen Wesen überhöht. Welches Frauenbild hatte Verdi?
Mehta: Er war ein Frauennarr. Das erkennt man an der Musik, die er seinen Hauptfiguren wie seiner Gilda in „Rigoletto“ sowie eben der Leonore zu singen gegeben hat. Am meisten hat er die Violetta aus „La Traviata“ verehrt. Wenn sie ihr Leben für den Mann hingibt, den sie liebt, bricht es einem das Herz. Es scheint fast so, als sähe sie keinen Grund mehr, ohne ihn weiterzuleben.
profil: Heute würde niemand mehr behaupten, dass eine Frau ohne ihren Mann keinen Grund hat weiterzuleben.
Mehta: Das ist öfter der Fall, als man glaubt. Vielleicht nicht in unserer emanzipierten Gesellschaft - aber die Mehrheit der Menschen ist immer noch nicht emanzipiert.
profil: Bedauern Sie das?
Mehta: Ja und nein. Arrangierte Hochzeiten in Indien findet im Westen jeder grässlich. Aber meistens halten solche Ehen ein ganzes Leben.
profil: Weil die Frauen kaum eine Chance haben, sich scheiden zu lassen.
Mehta: Natürlich können sie sich scheiden lassen. Aber das Ehepaar ist wirklich glücklich. Das Mädchen rechnet von Kindheit an damit, dass die Familie für sie den besten Mann finden wird. Das ist nicht nur ein ökonomisches oder ein gesellschaftliches Ereignis. Die suchen tatsächlich den passenden Jungen.
profil: Sie sind selbst Vater. Würden Sie für Ihre Töchter einen Mann aussuchen wollen?
Mehta: Es kommt darauf an, wo man aufwächst. Meine Familie ist im Westen aufgewachsen, und hier geht das nicht. Aber in einem indischen Dorf oder einer kleinen Stadt sucht der Vater einen Mann, der vermögend ist, eine gute Ausbildung hat und einer bestimmten Kaste angehört. Das Kastensystem ist leider eine Art Rassismus - sehr ungesund.
profil: Mussten Sie in der Klassikwelt je gegen Vorurteile kämpfen, weil Sie nicht aus einer westlichen Kultur stammen?
Mehta: In Wien nicht. Aber als ich in Liverpool ein Jahr Assistent beim dortigen Orchester war, habe ich Rassismus sehr wohl zu spüren bekommen. In den USA ist das Problem ähnlich. Mein Vater hat in Philadelphia einen Job als zweiter Geiger des Curtis String Quartet erhalten, das ja recht berühmt war. Dennoch konnte er keine Wohnung finden. Er hatte dunkle Haut, und das genügte. Die Leute schlugen ihm einfach die Tür vor der Nase zu.
profil: Ihr Vater war auch ein formidabler Dirigent. Warum wollte er dennoch, dass Sie Medizin studieren?
Mehta: Meine Familie war gegen die Künstlerlaufbahn, und in Indien sucht die Familie die Berufe für die Kinder aus. Wir haben nicht viele Berufsmöglichkeiten. Wer aus der indischen Mittelklasse stammt, kann nicht Tischler oder Schlosser werden. Wir sind Ärzte, Advokaten, Ingenieure. Auch mein Vater war zuerst Buchhalter, bevor er Musiker werden konnte.
profil: Warum stimmte die Familie Ihrem Wunsch schließlich doch zu, in Wien Musik zu studieren?
Mehta: Ich sagte zu meinem Vater: „Schau, wenn ihr wollt, studiere ich Medizin, aber es wird mir nicht gefallen. Ich muss Musiker werden.“ Er stellte sich sofort hinter mich. Meine Verwandten schlugen die Hände überm Kopf zusammen: gleich zwei Verrückte in der Familie! Zuerst wird der Vater Geiger und jetzt der Sohn Dirigent. Später waren alle sehr stolz und wollten ständig Freikarten von mir. Als ich erstmals mit dem New York Philharmonic Orchestra nach New Delhi und Bombay kam, lud mich die damalige Premierministerin Indira Gandhi zum Essen ein und fragte, warum ich in der Hauptstadt nur ein Konzert, in Bombay aber drei geben würde. „Weil zwei davon für meine Verwandten sind“, habe ich geantwortet.
profil: Sie sind ein gefeierter Verdi-Dirigent. Worauf kommt es bei seinen Opern an?
Mehta: Verdi ist ein sehr klassischer Komponist. Er hat die Tradition der italienischen Oper von Rossini und Donizetti geerbt. Man muss jede punktierte Achtelnote ernst nehmen. Bei Verdi darf nicht geschmiert werden.
profil: Kritiker werfen ihm vor, das Orchester gegenüber der Singstimme vernachlässigt zu haben.
Mehta: Erst Richard Wagner hat damit begonnen, in der Oper polyphone Gegenstimmen zu schreiben. Bei Verdi dreht sich noch alles um Melodie und Basslinie. Ich muss einmal nachzählen, wie viele Melodien Verdi allein in „Don Carlos“ erfunden hat. An einer Stelle tritt ein Page auf und annonciert: „Der Marquis von Posa“. Dazu spielen die Geigen eine viertaktige, wirklich herrliche Melodie - die aber danach nie wieder auftaucht. Wieso hat er keine Durchführung davon geschrieben? Eine Fuge daraus gebaut? Er hat eine geniale Melodie großzügig hergegeben.
profil: Verdi schrieb „La forza del destino“ in vier Monaten. Warum sind heutige Komponisten so viel langsamer?
Mehta: Man muss sich nur die modernen Partituren anschauen. Allein eine Seite davon aufzuschreiben dauert schon einen Monat. Die Musik ist einfach komplizierter geworden, was nicht heißt, dass sie auch besser wäre. Besser ist in der Kunst kein Kriterium. Wir sind ja nicht beim Sport.
profil: Zeitgenössische Musik gehört seit je zu Ihrem Repertoire: Muss man das Publikum zu neuer Musik zwingen?
Mehta: Nein, in Zentraleuropa nicht. Wenn man hier eine Uraufführung ansetzt, ist das Publikum neugierig. Wir haben an der Münchner Staatsoper „Bernarda Albas Haus“ von Aribert Reimann gespielt. Die Produktion lief drei Saisonen lang. Im selben Zyklus hören die Abonnenten einen Verdi, einen Mozart und einen Händel. Da gehen sie zwischendurch gerne mal in ein neues Opernwerk.
profil: Die New Yorker Met überträgt Opernaufführungen live in Kinosäle und ins Internet. Bringt das der Klassik neue Zuhörer?
Mehta: Ganz sicher. Ich kenne Leute, die sofort loszogen, sich ein Ticket zu kaufen, als angekündigt wurde, dass eine Vorstellung aus der Met in ihrem Kino zu sehen sein würde. Die Tonanlagen sind inzwischen derart gut geworden, dass man die Musik im Kino schon fast besser hören kann als in der Oper.
profil: Haben Sie sich je eine Aufnahme aus dem Netz heruntergeladen?
Mehta: Ich wüsste nicht einmal, wie ich das machen sollte.
profil: Warum lernen Sie es nicht?
Mehta: Ich höre jeden Tag sechs Stunden Musik live und sehne mich nicht nach mehr. Aber ich verstehe Leute, die sich Musik aus dem Netz holen. Ich mache jetzt Platten für Decca, wobei: Platten ist das falsche Wort. Das ist alles Download. Die Konzerte des Israel Philharmonic Orchestra werden mitgeschnitten und ins Internet gestellt.
profil: Tut es Ihnen leid, dass die Plattenindustrie kaum noch Bedeutung hat?
Mehta: Eigentlich schon. Wir sind aber selber schuld daran, weil wir zu viel gemacht haben. Ich allein habe manchmal zwölf Platten pro Jahr produziert - aber wirklich nicht aus Geldgier, sondern aus Ehrgeiz. Ich wollte die Symphonien von Brahms, Mahler und all den anderen Giganten einspielen.
profil: Haben Sie den Konkurrenzkampf unter den Dirigenten als brutal empfunden?
Mehta: Nein, in meiner Generation sind wir alle miteinander befreundet. Erst gestern war ich bei Riccardo Muti, um ihn einzuladen, auf meinem Festival in Florenz zu dirigieren. Die Dirigenten der früheren Generation hingegen haben alles unternommen, um die Kollegen von den Futtertrögen fernzuhalten.
profil: Sie meinen Wilhelm Furtwängler und Herbert von Karajan?
Mehta: Bitte keine Namen.
profil: Sie zählen seit über vierzig Jahren zur Weltspitze. Sind Sie vor Auftritten noch nervös?
Mehta: War ich eigentlich nie. Bloß wenn ich nicht genügend Proben habe und nicht weiß, ob das Orchester die Musik gut verdaut hat, kriege ich Bedenken. Trotzdem gehe ich nach draußen und tue vor dem Orchester so, als wäre ich total selbstsicher und hätte keinerlei Zweifel. Es wäre schlecht, den Musikern Nervosität zu zeigen.
profil: Herbert von Karajan war der Inbegriff von Macht und Einfluss. Was interessiert Sie an der Macht Ihres Berufs?
Mehta: Das Bild vom allmächtigen Dirigenten ist eine Illusion, die das Publikum ruhig haben soll. Aber der Auftakt gehört mir. Als Dirigent gebe ich das Tempo an und muss wissen, wie ich das Orchester durch die Partitur führe. Wie gestalte ich das Adagio der „Eroica“? Das Thema ist lang und langsam. Wenn man die Spannung nicht hält, kann man das Publikum schon mitten im Anfangsthema verlieren.
profil: Daniel Barenboim behauptet, so viel Musik auswendig zu kennen, dass er mehrere Tage hintereinander durchdirigieren könnte.
Mehta: Vielleicht gelänge mir das auch, aber das ist jetzt Angeberei. Alle Brahms-Symphonien, alle Beethoven-Symphonien und mindestens zehn Mozart-Symphonien hintereinander, das ginge. Hängt man den Bruckner an, würde es noch länger werden. Die ersten fünf Mahler-Symphonien kann ich auch jederzeit aufführen. - Aber das schreiben Sie doch jetzt hoffentlich nicht?
profil: Wieso nicht? Das ist doch beeindruckend. Dirigieren Sie eigentlich gerne auswendig?
Mehta: Wenn ich ein Stück sehr gut kenne, ja. Mahlers Siebente Symphonie beispielsweise habe ich aber erst relativ spät in meinem Leben studiert. Also lege ich mir die Partitur zum Dirigieren aufs Pult. Wenn das Orchester benachteiligt wäre, bloß weil ich mir nicht sicher genug bin, ist es das nicht wert.
profil: Beim Israel Philharmonic Orchestra sind Sie Chefdirigent auf Lebenszeit. Sie werden Ihr Amt pflichtgetreu erfüllen?
Mehta: Die Bezeichnung „auf Lebenszeit“ ist für mich kein Vertrag, sondern ein Ehrentitel. Wenn die Musiker glauben, dass sie jemand anderen wollen, sollen sie mir das sagen. Alle fünf Jahre stelle ich mich hin und frage: Habt ihr genug von mir? Ich verlange von den Musikern sogar, dass sie sich untereinander besprechen, ohne dass ich dabei bin. Juden sind Leute mit Meinungen.
profil: 1981 dirigierten Sie in Israel zwei Wagner-Aufführungen. Warum wollten Sie den israelischen Boykott deutscher Musik brechen?
Mehta: Eigentlich waren es nur eineinhalb Aufführungen. Die Leute protestierten so laut, dass wir abbrechen mussten. Ich hatte das Vorspiel von „Tristan und Isolde“ gewählt. Das war vermutlich das falsche Stück für den Anlass, denn die ersten fünf Minuten sind sehr leise. Wenn da jemand hineinbrüllt, kann man nicht weiterspielen. Hätte ich die „Meistersinger“ gewählt, wäre das eher gegangen. Dort lässt es Wagner ordentlich krachen.
profil: Warum also wollten Sie den Boykott brechen?
Mehta: Wir leben in einer Demokratie, und damals war Israel die einzige Demokratie im Nahen Osten. Die Leute sollen selbst entscheiden dürfen, was sie hören wollen. Ich habe die Wagner-Stücke als Zugabe gespielt und vorher zum Publikum gesagt: „Sie haben höflicherweise unser Konzert besucht. Wer Wagner nicht hören will, kann den Saal jetzt gerne verlassen.“ Bloß einer ist aufgestanden und hat protestiert. Am zweiten Tag war der Protest schlimmer. Da kamen die Gegner, die nicht im Konzert waren, extra zur Zugabe herein.
profil: Wie viel politische Bedeutung kann Musik denn haben? 1956 stellten Sie während der Ungarn-Krise ein Studentenorchester zusammen und dirigierten es in einem Flüchtlingslager bei Wien.
Mehta: Das war mein erstes Konzert in Wien überhaupt. Man kann sich nicht vorstellen, was damals los war. Die Ungarn kamen in Strömen über die Grenze. Wir fuhren mit einem Bus voller Pulte und Instrumente zum englischen Camp. Einer der Esssäle wurde geräumt, und wir spielten für die ungarischen Flüchtlinge. Am Ende des Konzerts kam ein Priester auf uns zu und segnete uns. Dieser Segen hat mich beschützt.
profil: Wie haben die Zuhörer auf die Musik reagiert?
Mehta: Och, das waren lauter Bauern. Wir spielten die „Ungarische Rhapsodie“ von Liszt, Auszüge aus der „Fledermaus“ und die „Unvollendete“. Viele Jahre später traf ich in Beverly Hills zufällig ein Ehepaar, das in dem Konzert gewesen war und sich noch an jedes Detail erinnern konnte. Das war ein besonders schöner Moment.
profil: Sie werden heuer 72. Verschwenden Sie hin und wieder einen Gedanken an die Möglichkeit, in Pension zu gehen?
Mehta: Manchmal bin ich frustriert und will alles aufgeben. In Florenz, wo die Oper erfunden wurde, gibt es für die Musik zu wenig Geld, weil Silvio Berlusconi den Kulturetat gekürzt hat. Nun kommt der Mann womöglich wieder. Das ist frustrierend. Aber in Pension gehe ich nicht.
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